Das Bild
Ich bin zu Ela und Christina gegangen, um den Gastvater zu besuchen. Er ist der einzige, den ich in der Nachbarschaft kenne, der Französisch spricht. Aber die Tür war verschlossen und Christina schrieb mir auf Whatsapp, dass sie mit ihrer Familie unterwegs seien. Plötzlich flogen zwei sehr kleine, aber laute Vögel an mir vorbei. Sie waren beide so groß wie Schwalben und hatten beide einen weißen Hintern, als wären sie mit dem Hintern nach unten in einen Sack Weizenmehl gefallen. Ich erkannte sie, es waren Bubisher! Der Bubisher ist ein Saharasteinschmätzer. Nach sahrauischem Volksglauben ist er ein Glücksvogel. Und sie sahen genau so aus wie das Cartoon-Bild vor dem Eingang der Bubisher-Bibliothek, die wir am ersten Programm-Tag besuchten. Ich rannte ihnen hinterher, verlor aber schließlich die Spur. Ich hatte mich schon ein Stück von den Häusern entfernt. Plötzlich sah ich ein Bild, das mich mit seiner friedlichen Ausstrahlung überwältigte.
Die tiefen Gewitterwolken der Sahara zeigten sich in einem gigantischen Format, alles unter den Wolken, wie z.B. die Häuser und die rotgefärbte Erde wurden von der Nachmittagssonne der Sahara angestrahlt. Aber es war nicht dieses gigantische Naturschauspiel, das mich ergriffen und überwältigt hat. Die friedliche Ausstrahlung einer Familie, die in der Wüste zusammensaß und gemeinsam den ruhigen Freitagnachmittag und die Sahara nach dem heftigen Gewitter genoss, ließ mich sprachlos staunen. Frieden ist hier und jetzt. Mein Herz blieb in diesem Moment stehen.
Plötzlich entdeckten mich die Kinder dieser Familie. Sie rannten aus einer Entfernung von etwa 100 Metern auf mich zu. Als sie sich mir näherten, breiteten sie ihre Arme so weit wie möglich aus und umarmten mich mit aller Kraft. Ich, von dem Bild geblendet und noch in Ekstase, erlebte das alles wie im Traum. Ich blickte in ihre strahlenden Augen voller Freude und Hoffnung und verlor alle Gedanken. Nur ein Traum kann so süß sein. Sie ergriffen meine Hände und zogen mich zu den Frauen, die die Protagonisten meines Bildes waren.
Ich stellte mich als Sijia vor, deutete mit dem Finger in die Richtung der Nachbarschaft und erklärte mich mit dem Wort „Almaniya“. Sie machten das typische „Ja“-Geräusch. Und sagten auf Spanisch, dass sie uns kennen. Eine jüngere Frau fragte mich auf Spanisch, wann wir wieder nach Deutschland fahren würden. Ich antwortete mit „Sabah wa Sabah“, um mit meinem begrenzten Arabisch das Wort „übermorgen“ auszudrücken. Sie begann auf Spanisch zu erklären, dass sie alle Schwestern seien. Dann fragte sie mich, ob ich verheiratet sei. Als sie erfuhr, dass ich keinen Mann habe, zeigte sie auf ihre ältere Schwester und versuchte mir zu erklären, dass sie auch keinen Mann habe, sie sei genau wie ich. Als ich versuchte, mehr Details über die ältere Schwester zu erfahren, rief Marie mich an und bat mich dringend, nach Hause zu kommen. Ich erfuhr nicht, ob die ältere Schwester verwitwet oder unverheiratet war. Und sie schien mir gerade etwas aus ihrem Leben erzählen zu wollen, als mein Telefon klingelte. Ich entschuldigte mich und verabschiedete mich von den Damen und den Kindern. Dann bin ich losgelaufen, denn die Sache schien dringend zu sein.
Diese Begegnung war sehr kurz und mein "Ekstase"-ähnlichen Zustand half mir nicht, die Eindrücke rational zu ordnen. Was mich sehr beeindruckt hat, war, dass die Schwestern mit mir sprachen, als ob sie mich schon lange kennen würden. Sie waren so friedlich, so entspannt, als ob ich schon immer zur Familie gehört hätte. Es schien keine Rolle zu spielen, wie ich aussehe. Ich kann ein chinesisches oder ein deutsches Gesicht haben, aber da ich zu ihnen gegangen bin, gehörte ich sofort zu ihrer Familie.
Maries Frage am ersten Tag im Camp ging mir immer wieder durch den Kopf: „Aber kannst du dir vorstellen, hier zu leben?“ Diese Frage taucht während des gesamten Aufenthaltes immer wieder auf. Aber es fällt mir immer schwerer, eine klare Antwort zu geben. Ich wurde von der Sahara einverleibt, ich wurde von dieser geheimnisvollen und unbekannten Kultur einverleibt. Die Sahara hat mich gegrillt und dann mit dem heftigsten Gewitter getauft. Im Laufe der Tage veränderte ich mich allmählich. Aber die Veränderung war so unterschwellig, dass ich nicht sagen kann, was und wie ich mich verändert habe. Ich habe es ohne Duschen und ohne Social Media ausgehalten. Ich schätze Wasser und Frieden so sehr, dass ich, wenn ich beides in meinem Leben hätte, der glücklichste Mensch der Welt wäre. Heute habe ich gelernt, wie ich den Regen vom Himmel fallen sehen und mich trotzdem in Ruhe mit den Menschen unterhalten kann. Und ich kann auch mit Fremden über mein Privatleben sprechen, als ob ich schon immer zu ihrer Familie gehört hätte.
Es gibt etwas, das größer ist als wir Menschen. Es kann unser Leben prägen und verändern. Ich will nicht die Thesen des Materialismus in den Vordergrund stellen, aber im Moment habe ich keine bessere Erklärung für das, was ich erlebt habe. Dieses Leben im Camp, dieses Miteinander, wer hat es geformt? War es die Sonne? War es der Wind? Meine Antwort ist: Es war die Sahara. Aber das ist nur eine vorläufige Antwort. Ich hebe sie mir für mein späteres Leben auf, um der Frage weiter nachzugehen.
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