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Arabisch lernen in einem sahrawischen Flüchtlingslager in Algerien 2019

19.09.2019

Arabisch lernen in einem sahrawischen Flüchtlingslager in Algerien

Wir waren eine kleine Delegation von zwei Personen und hatten uns für unseren dreiwöchigen Aufenthalt in der Westsahara viel vorgenommen. Zum einen wollten wir den Arabischkurs kennenlernen, der seit zehn Jahren vom Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur (ZEOK, mit Sitz in Leipzig) in den sahrawischen Flüchtlingslagern im Südwesten Algeriens organisiert wird. Darüber hinaus loteten wir eine Kooperationsvereinbarung zwischen der neu gegründeten Universität Tifariti und der LMU München aus, um im Rahmen derer zukünftig akademische Projekte in verschiedenen Disziplinen zur Unterstützung sahrawischer Lehrender und Studierender zu ermöglichen. Außerdem war es uns ein Anliegen, möglichst viele Menschen zu treffen, um den Konflikt um die Westsahara besser verstehen zu lernen.

 

haqunia

Foto: Flüchtlingslager Laayoun, B. Gräf

Sahrawis (aṣ-Ṣaḥrāwīyūn)

Alles, was wir erlebten, übertraf unsere Erwartungen. Wir sprachen nicht nur mit vielen verschiedenen Menschen in unterschiedlichen Positionen – mit Vertreterinnen des sahrawischen Frauenverbands, Student*innen des Youth Observatory, Handwerkerinnen, Bauingenieuren, Lehrern, Vertretern des sahrawischen Jugendverbandes UJSARIO, Soldaten, dem stellvertretenden Kultusminister, dem Oberbürgermeister des Lagers El Aaiún/Laayoun, in dem wir wohnten und wo der Sprachkurs stattfindet (al-ʿUyūn, die Quellen, benannt nach der Hauptstadt der von Marokko besetzten Westsahara) und vielen mehr –, wir lebten auch inmitten einer Gastfamilie, die uns herzlich in ihr Zelt, ihr Haus und ihre beduinischen Lebensgewohnheiten aufnahm.

Ab sofort aßen wir mit allen Familienmitgliedern gemeinsam von einem großen Teller auf einem kleinen Tisch am Boden, unsere Schuhe waren nicht mehr nur die unseren und Taschenlampen, Kopfhörer und Powerbanks gehörten nicht mehr uns allein. Eigentumskategorien spielen hier eine untergeordnete Rolle. Die meisten Menschen in den Flüchtlingslagern besitzen nur, was sie von internationalen Hilfsorganisationen zugeteilt bekommen. Viele Menschen arbeiten in den Verwaltungsstrukturen der Lager, manche verdienen sich mit eigenen Geschäften etwas dazu, andere arbeiten für wenig Geld in kleinen Werkstätten, viele arbeiten ehrenamtlich und wieder andere tun nichts, weil es nicht viel zu tun gibt. Alle sind davon überzeugt, dass sie eines Tages in ihre Heimat, sprich, in die von Marokko besetzen Gebiete (al-manāṭiq al-muḥtalla), zurückkehren werden.

Unsere Gastmutter bekochte uns täglich. Ihre einzige Frage, als wir schlaftrunken um drei Uhr morgens im Dunkeln, in die Stille des Lagers kamen, war: „Hal anti nabātiyya? Wa-zamīlatik?“ (Bist du Vegetarierin? Und deine Kollegin?) „Wie bitte?“, fragte ich etwas verzögert. Daraufhin Fatimatu: „Die Deutschen sind meist Vegetarier. Ich frage, weil ich morgen früh für mittags kochen werde.“ Nein, antwortete ich, seien wir nicht. Wir müssten aber auch nicht jeden Tag Fleisch essen, schob ich noch hinterher. Da lag sie aber schon wieder auf ihrem Bettgestell unter freiem Himmel.
Das Ergebnis, es gab jeden Tag Kamel, Ziege oder Huhn in allen Varianten: geschmort, aus dem Ofen, am Spieß. Dazu Brot, Reis, Couscous oder Makkaroni. Gemüse eher selten. Obst nie. Die Verpflegungsrationen der Vereinten Nationen enthalten nichts Frisches außer Wasser. Wie frisch und gesund das aus Tanks zur Verfügung gestellte Wasser jedoch wirklich ist, blieb offen. Wir tranken es nicht, sondern kauften Wasser in Plastikflaschen, zu zweit mindestens sechs bis acht Liter am Tag. Trotz des so erzeugten Plastikmülls (die Wüste ist voll damit) war unsere Öko-Bilanz vor Ort wahrscheinlich sehr viel besser als zu Hause, da es im Lager El Aaiún kein fließendes Wasser und keine über Leitungen verlegte Elektrizität gibt.

Arabischunterricht

Der Arabischkurs dauert vier Wochen. Das Unterrichtspensum beträgt fünf Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche. Die Kurse werden von erfahrenen sahrawischen Sprachlehrern aus den Flüchtlingslagern geleitet. Der Unterricht erfolgt in kleinen Gruppen (etwa fünf bis zehn Teilnehmer*innen). Die Vorkenntnisse werden in einem Eignungstest abgefragt. Der Schwerpunkt der Kurse liegt auf der Förderung des Hocharabischen, auf Wunsch wird der Lokaldialekt Ḥassāniyya gelehrt.

Neben dem intensiven Unterricht verbessert man seine Arabischkenntnisse durch das Zusammenleben mit der Gastfamilie. In unserer Familie lebten sechs Personen, neben Vater und Mutter, die vier bereits erwachsenen Kinder. Zum Essen waren wir oft viel mehr Leute. Die Verständigung ist nicht immer einfach, dafür aber lustig und lehrreich.

Nach meiner Erfahrung würde ich einen Kurs in El Aaiún nach dem dritten Semester Arabisch empfehlen, als optimale Vorbereitung für Arabisch IV und für einen guten Abschluss der Arabisch-Prüfung am Ende des vierten Semesters. Es gibt dort wenig Ablenkung und viel Raum, um Vokabeln zu lernen und über globale politische Verhältnisse nachzudenken und zu diskutieren, vor allem über Flüchtlingslager und Mauern. Die von Marokko errichtete Mauer (al-ǧidār ar-ramlī), ein mit Stacheldraht und Landminen versehener doppelter Sandwall, der sich quer durch die Westsahara zieht und zwischen den besetzten und den befreiten Gebieten (al-manaṭiq al-muḥarrara) verläuft, ist 2.720 km lang, so lang wie der Jakobsweg von Köln nach Santiago de Compostela.

Die Organisation der Kurse erfolgt über das ZEOK, alle formalen Angelegenheiten wie Flugbuchung und Visa-Beschaffung eingeschlossen. Verantwortlich ist Mohamed Badati, der selbst in der Westsahara geboren wurde und heute mit seiner Familie in Leipzig lebt. Als unsere Flüge gebucht und Visa ausgestellt waren, schrieb er mir eine Nachricht mit den Worten „Alles in Butter.“ Diesen weichen Ausdruck hatte ich seit meiner Kindheit nicht mehr gehört und er zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen. Und ein Lächeln konnte ich in den folgenden Wochen gut gebrauchen:

Der sogenannte Westsahara-Konflikt betrifft im Moment die von Marokko besetzen Gebiete, wobei diese doppelt so groß sind wie Marokko selbst und lukrative Phosphatvorkommen bergen. Darüber hinaus betrifft der Konflikt die befreiten Gebiete mit der symbolischen Hauptstadt der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS), Tifariti, wo bisher so gut wie niemand wohnt, sowie die fünf Flüchtlingslager auf algerischem Territorium mit geschätzten 175.000 Einwohnern. Die Menschen leben hier in der vierten Generation, über 70% von ihnen sind unter 35 Jahre alt und haben das Land, um das es geht, noch nie gesehen.

In diesem September hat die 1966 im Süden Marokkos geborene sahrawische Menschenrechtsaktivistin Aminatou Haidar den alternativen Nobelpreis bekommen. Seit sie 20 Jahre alt ist, kämpft sie von der besetzten westsaharischen Stadt El Aaiún aus für das Selbstbestimmungsrecht der Sahrawis, ein Recht, das der Internationale Gerichtshof in Den Haag bereits 1975 in einem Gutachten als höherwertig eingestuft hat als die von Marokko verteidigte historische Bindung der Westsahara an Marokko.

Kooperationen

Die Lebensbedingungen der Menschen, die seit über 40 Jahren in fünf Lagern auf algerischem Territorium leben, sind frustrierend, aber nicht alle Leute sind frustriert. Said Khatari Ahmudi Abdallahi zum Beispiel, der Rektor der Universität Tifariti, 2013 gegründet und im größten der Lager namens Rabuni gelegen, ist ein dynamischer Mann mittleren Alters, der sich nicht aufhalten lässt. Für das Bildungsministerium der DARS hat er bisher viel erreicht. In den Flüchtlingslagern ist bis dato nur eine kostenlose Schulbildung vorgesehen, für eine höhere Bildung müssen Sahrawis ins Ausland gehen. Dies soll sich nun nach und nach ändern. Dafür suchte und fand Khatari Partneruniversitäten in Leeds, Havanna, Santiago de Compostela und andernorts. Die LMU München könnte eine der nächsten Partneruniversitäten werden.

 

Bettina Gräf

 

Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift INMO Nr. 2 "Grenzen und Imperialismus", Februar 2020 (INMO ist ein studentisches Projekt am Institut für den Nahen und Mittleren Osten der LMU München)

 

Wissenschaftliche Literatur:
Gundi Dick: Eine Hand allein kann nicht klatschen. Westsahara – mit Frauen im Gespräch, Wien: Löcker, 2014.

Judit Tavakoli: Zwischen Zelten und Häusern. Die Bedeutung materieller Ressourcen für den Wandel von Identitätskonzepten saharauischer Flüchtlinge in Algerien. Berlin: regiospectra, 2015.


Weitere Informationen:

Mauro Entrialgo: "Der West-Sahara Konflikt in weniger als 3000 Wörtern", übersetzt und herausgegeben von Projektgruppe Westsahara/ Khaima e.V., 2014 (2012).

Kerem Schamberger: "Das vergessene Volk der Westsahara – oder: Soziale Medien in der Wüste". In: Michael Meyen (Hrsg.): Medienrealität 2019. https://medienblog.hypotheses.org/5480 (letzter Zugriff 20.2.2020).

Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt: "Aminatou Haidar mit alternativem Nobelpreis gewürdigt", 2019 (letzter Zugriff 20.2.2020).

ZEOK grenzenlos. https://www.zeok.de/zeok-grenzenlos/

 

Teaserbild: Befreite Gebiete, Territorium der Demokratischen Arabischen Republik Sahara, B. Gräf

 


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