Jüdisches Leben zwischen Deutschland und der Türkei
Eine Vortragsreihe zu Ehren des in Vergessenheit geratenen LMU-Professors Karl Süßheim
04.11.2024
© Privatnachlass Karl Süßheim, Margot Suesheim (†), New York, und Familie
Die Veranstaltung findet im Rahmen der Vortragsreihe „Jüdisches Leben zwischen Deutschland und der Türkei“ zu Ehren des in Vergessenheit geratenen LMU-Professors Karl Süßheim statt. Die Reihe ist eine Kooperation des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) mit den Fachbereichen Turkologie und Judaistik am Institut für den Nahen und Mittleren Osten der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) sowie dem Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der LMU.
ORT
LMU-Hauptgebäude, Hörsaal A 125
Geschwister-Scholl-Platz 1
80539 München
ANMELDUNG
Bitte melden Sie sich über das Online-Formular beim Fachbereich Turkologie der LMU an.
21. Oktober 2024: Dr. Kristina Milz (München) / Eine Biografie über Grenzen: Der Münchner Orientalist Karl Süßheim und sein Vermächtnis
Fachlich, geographisch, sozial: Die Biografie Karl Süßheims (1878–1947) handelt von Grenzen in ihrem umfassendsten Sinne – und muss zwingend über sie hinausgehen. Als Sohn eines wohlhabenden Nürnberger Hopfenhändlers geboren, umspannt Süßheims Leben vier politische Systeme und zwei Weltkriege. Als Orientalist ein singuläres Sprachengenie mit muttersprachlichem Niveau im Arabischen und Türkischen, war er ohne Zweifel einer der besten deutschen Kenner des Nahen Ostens seiner Zeit und ein wichtiger Lehrer für Größen seiner Fächer wie Gershom Scholem und Franz Babinger; eine steile wissenschaftliche Karriere blieb ihm allerdings verwehrt. Nach einem langjährigen Aufenthalt im Osmanischen Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und einer mühsamen Habilitation an der LMU blieb er bis zu seiner Entlassung von der Universität auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ im April 1933 außerplanmäßiger Professor ohne feste Bezüge, im Anschluss musste er sich als Privatgelehrter durchschlagen. Als einer der letzten Münchner Juden gelang es ihm im Sommer 1941, der Schoa zu entkommen und ins Exil nach Istanbul zu gelangen. An der dortigen Universität unterrichtete er die türkische Geschichte, bis er 1947 starb.
Moderation: Prof. Dr. Ronny Vollandt (München)
18 Uhr c.t. Ӏ LMU-Hauptgebäude, Geschwister-Scholl-Platz 1, Hörsaal A 125
4. November 2024: Prof. Dr. Christoph K. Neumann (Istanbul) / Unbehagliche Teilhabe ohne selbstverständliches Selbstverständnis? Jüdische Intellektuelle in der Türkei, 1934 bis 1946
Die Rolle der Exilanten aus Deutschland in der türkischen Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte ist ein lebendiges Forschungsgebiet der intellectual history, auf dem immer wieder neue, wesentliche Ergebnisse erzielt werden. Die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in der frühen Türkischen Republik dagegen interessiert vorwiegend als politische Geschichte; es geht um Nationalismus, Turkifizierung, Diskriminierung, Verfolgung und Selbstbehauptung. Der Vortrag versucht sich an einer Exploration zur Rolle einheimischer jüdischer Gelehrter und Intellektueller in der Zeit des Hochkemalismus zwischen den als „Thrakischen Vorfällen“ bekannten Pogromen von 1934 und dem Ende des Staatsparteisystems 1946 sowie der Gründung des Staates Israel. In diesen Jahren lag die Zahl der Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft bei leicht fallender Tendenz zwischen 75.000 und 80.000 Menschen, immerhin mehr als vier Prozent der Bevölkerung, darunter überdurchschnittlich viel Stadtbevölkerung mit Zugang zu Bildung. Der Vortrag fragt nach den Handlungsspielräumen und den intellektuellen oder wissenschaftlichen Aktivitäten jüdischer Bürgerinnen und Bürger der Türkei – auch in der Konfrontation mit hinzugezogenen jüdischen Flüchtlingen insbesondere aus Deutschland, die die türkische Akademia verstärkt mitgestalteten.
Moderation: Prof. Dr. Mehmet Hacısalihoğlu (München)
18 Uhr c.t. Ӏ LMU-Hauptgebäude, Geschwister-Scholl-Platz 1, Hörsaal A 125
18. November 2024: Prof. Dr. Kader Konuk (Dortmund) / Erich Auerbachs Konzept für ein post-totalitäres Europa
„Die Leser der Odyssee“: So beginnt der Berliner Romanist Erich Auerbach sein bahnbrechendes Werk mit dem Titel „Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur“, das er 1946 veröffentlichte – gegen Ende seines elfjährigen Exils in Istanbul. Seine Analyse europäischer Literaturen aus fast drei Jahrtausenden, bezeichnenderweise beginnend mit der Odyssee und der hebräischen Bibel und abschließend mit Marcel Proust, Virginia Woolf und James Joyce, sollte zu einem der bedeutendsten und einflussreichsten literaturwissenschaftlichen Werke des 20. Jahrhunderts werden, die im deutsch-jüdischen Exil entstanden sind. Nicht zufällig spricht Auerbach gleich zu Beginn eine humanistisch gebildete Leserschaft an, bei der er während des Verfassens dieses Buches nicht davon ausgehen konnte, dass sie die nationalsozialistische Gewaltherrschaft überleben würde. Er adressierte sein Werk ganz bewusst an die Leserschaft, die vom antihumanistischen und antisemitischen totalitären System brutal gebrochen wurde. Dem Bewusstsein über die maßlose Zerstörung standen die Bemühungen der Exilierten gegenüber, ihr Wissen für eine Zeit danach zu bewahren. In diesem Sinne ist das Werk als ein Akt des Sammelns und Erinnerns für eine noch nicht greifbare Zukunft zu sehen; es ist ein kuratorischer Akt für eine mögliche Zeit danach. Rekurrierend auf das Wissen und die Bücher, die ins Exil gerettet wurden, aber auch rekurrierend auf seine Erfahrungen an der Universität Istanbul, die sich als moderne, säkulare Universität konstituierte, imaginierte Auerbach eine post-totalitäre Zukunft, für die er die literarische Geburt Europas neu erzählte.
Moderation: Dr. Julia Schneidawind (München)
18 Uhr c.t. Ӏ LMU-Hauptgebäude, Geschwister-Scholl-Platz 1, Hörsaal A 125
2. Dezember 2024: Reiner Möckelmann (Berlin) / Helfer für jüdische Flüchtlinge im Transitland Türkei
Es ist ein im deutschsprachigen Raum wenig beachteter Aspekt der Holocaustforschung: Nach dem Kriegseintritt Italiens 1940 und der Besetzung Griechenlands 1941 schwanden die Fluchtmöglichkeiten für südosteuropäische Jüdinnen und Juden schlagartig. Nur über ein klandestines, informelles Netzwerk in Istanbul konnte die Flucht direkt nach Palästina organisiert werden. Erstmalig und umfassend beleuchtete der langjährige Diplomat Reiner Möckelmann die Geschichte dieser Fluchtroute in seinem Buch „Transit Istanbul–Palästina“ (2023). Sein Vortrag widmet sich den konkreten Rettungs- und Hilfsaktionen, die im Kriegsverlauf zunehmend von der Türkei und speziell von Istanbul aus organisiert wurden. Für das Überleben der Verfolgten setzten sich dort zahlreiche helfende Hände, jüdische Hilfs- und Rettungsorganisationen, das Rote Kreuz, Botschaften und Konsulate verschiedener Länder sowie Einzelpersonen in unterschiedlicher Intensität ein. Sie sind die zentralen Akteure, die der Vortrag in den Blick nimmt.
Moderation: Dr. Kristina Milz (München)
18 Uhr c.t. Ӏ LMU-Hauptgebäude, Geschwister-Scholl-Platz 1, Hörsaal A 125
16. Dezember 2024: Enver Hirsch (München) / Eine unzeitgemäße Biografie: Der Jurist Ernst Hirsch im türkischen Exil
„Aus des Kaisers Zeiten durch die Weimarer Republik in das Land Atatürks“, oder – auf Türkisch – „Anılarım, Kayzer Dönemi, Weimar Cumhuriyeti, Atatürk Ülkesi“: Mit diesem Titel und der Unterzeile „Eine unzeitgemäße Biographie“ erschien im Jahr 1982 Ernst Hirschs Autobiografie. Unzeitgemäß verlief die Karriere des jungen Juden als Jurist: Geboren 1902, mit 28 Jahren Privatdozent für Handelsrecht und mit 29 Jahren zum Richter am Landgericht Frankfurt berufen, erfuhr er einen vielversprechenden Berufseinstieg, der aber im April 1933 durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ im Zuge der NS-Rassenpolitik brutal beendet wurde. Beruflicher Erfolg in Deutschland blieb ihm also verwehrt, doch es folgte eine beispiellose Karriere in der noch jungen türkischen Republik. Obwohl er bereits die Zusage der Universität Amsterdam für eine Berufung auf den Lehrstuhl für Internationales Handelsrecht hatte, entschied Hirsch sich für das „Abenteuer Türkei“. Es folgten 19 Jahre Tätigkeit als Professor für Handelsrecht, Rechtsoziologie und Rechtsphilosophie an den Universitäten Istanbul und Ankara und gleichzeitig als Berater der türkischen Regierung. Ernst Hirsch gilt heute als „Vater des türkischen Handelsgesetzbuchs“ – darüber hinaus war er aber auch Vater einer Familie zwischen den Welten: Der Referent Enver Hirsch zeichnet in seinem Vortrag die Biografie seines Vaters nach und berichtet über seine eigene Kindheit als Sohn eines Exilanten.
Moderation: Prof. Dr. Mehmet Hacısalihoğlu (München)
18 Uhr c.t. Ӏ LMU-Hauptgebäude, Geschwister-Scholl-Platz 1, Hörsaal A 125
20. Januar 2025: Dr. Corry Guttstadt (Berlin) / Die Türkei und der Holocaust
Die Türkei war während des Zweiten Weltkriegs weder besetzt noch an Kriegshandlungen beteiligt. Als einziger neutraler Staat zwischen den von Nazi-Deutschland besetzten Staaten Ost- und Südosteuropas war sie als Fluchtroute für Jüdinnen und Juden auf dem Weg nach Palästina von herausragender Bedeutung. Schon während der 1930er Jahre hatten zahlreiche verfolgte Akademiker aus NS-Deutschland ein Exil in der Türkei gefunden. Doch auch für die mehr als 20.000 Jüdinnen und Juden aus der Türkei, die in dieser Zeit in Europa lebten und dort die NS-Verfolgung erlebten, war die Haltung Ankaras überlebenswichtig. Der Vortrag untersucht die widersprüchliche Politik der Türkei während des Holocaust und ihre Konsequenz für jüdisches Leben in und außerhalb des Landes.
Moderation: Prof. Dr. Andrea Löw (München)
18 Uhr c.t. Ӏ LMU-Hauptgebäude, Geschwister-Scholl-Platz 1, Hörsaal A 125
29. Januar 2025: Abschlussdiskussion mit Eri Alfandari (München), Prof. Dr. Mehmet Hacısalihoğlu (München), Prof. Dr. Philipp Lenhard (München) und Prof. Dr. Ronny Vollandt (München) / Karl Süßheim heute – zwischen damnatio memoriae und Rehabilitation
Trotz seines interessanten Lebens und höchst aktuellen Forschungsfeldes, trotz seines tragischen, häufig berührenden Schicksals blieb Karl Süßheim lange Zeit fast völlig unbekannt, was auch mit einer ihm quasi auferlegten damnatio memoriae durch die LMU zu tun hat, die ihren langjährigen Professor nach Kriegsende nicht rehabilitierte, sondern stattdessen abseits der Öffentlichkeit mit seiner Witwe um „Wiedergutmachung“ stritt. Nach einem kurzen Impuls von Biografin Kristina Milz zu Süßheims Nachleben an der LMU diskutieren der Münchner Student Eri Alfandari und der Historiker Philipp Lenhard, die Süßheim-Nachfolger im turkologischen Fach Klaus Kreiser und Mehmet Hacısalihoğlu sowie Judaistik-Professor Ronny Vollandt über Karl Süßheims Erbe und jüdisch-deutsche Erfahrungen an den Universitäten nach 1945. Zum Abschluss der Vortragsreihe wird erstmals eine Gedenktafel präsentiert, die fortan an der Fassade des Nahostinstituts an den in Vergessenheit geratenen Mitbegründer der Turkologie und Nahoststudien in München erinnern soll.